Einige von uns werden sich bestimmt noch an die mathematische Kurvendiskussion erinnern¹. Diese lehrte uns, mit Hilfe von mathematischen Methoden Steigungen, Wendepunkte, Schnittstellen sowie Maxima und Minima zu bestimmen. Anspruchsvoll, aber nicht unmöglich zu erlernen.
In der Finanzwelt haben wir es auch mit Kurven zu tun, obwohl es sich genau genommen nicht wirklich um Kurven im Sinne von stetigen Funktionen handelt, sondern eher um Punktwolken, die ähnlich eines Malbildes von den Betrachtern verbunden werden: die Renditekurven².
Nun gibt es viele theoretische Modelle, die zu beschreiben versuchen, wieso eine Renditekurve eine bestimmte Form hat und nicht eine andere. Es gibt unter anderem die Erwartungstheorie, die Liquiditätspräferenztheorie und die Marktsegmentierungstheorie. Der interessierte Leser kann es entweder recht trocken auf Wikipedia³ vertiefen oder unterhaltsamer einen alten Marktkommentar von Oktober 2017 bemühen, in dem unser Chefvolkswirt Yves Longchamp⁴ die unterschiedlichen Ansätze zur Renditekurve beleuchtet.
Der regelmäßige Leser unserer Marktkommentare wird an dieser Stelle schon wissen, dass wir uns nun, aus aktuellem Anlass, wieder einmal der sehr flachen Zinskurve der USA widmen werden. Am 27. August 2018 veröffentlichte die regionale US-Notenbank in San Francisco eine neue Studie über die Prognosekraft der US-Zinskurve im Hinblick auf die zukünftige volkswirtschaftliche Entwicklung⁵.
Grafik 1: Entwicklung der Zinsdifferenz zwischen den 10- und 2-jährigen US-Staatsanleihen.
In der oben angeführten Grafik werden die Zinsdifferenz zwischen den 10- und 2-jährigen US-Staatsanleihen sowie die Perioden der letzten drei Rezessionen dargestellt, die das National Bureau of Economic Research veröffentlicht hat⁶. Es scheint, als ob die US-Wirtschaft in etwa 18 bis 24 Monate nachdem die Zinskurve invertierte, also der längere Zins unterhalb des kurzen Zins lag, in eine Rezession glitt. „Nun ja!“, werden die Statistiker unter den Lesern nun rufen. Es könnte sich dabei auch um eine Scheinkorrelation handeln. Der Zusammenhang sei also nicht kausal, sondern rein zufällig. Als Beispiel hierfür sei die fast ernst zu nehmende Analyse zu nennen, dass der Klapperstorch doch die Babys bringt⁷, oder auch eine andere Sammlung von amüsanten Scheinkorrelationen⁸.
Den Lesern sei aber versichert, dass es eine Vielzahl von sehr seriösen Studien gibt, die die Form der Zinskurve zu erklären versuchen. Es gibt aber eine Vielzahl von Wissenschaftlern, die behaupten, dass die deutliche Abflachung der Kurve mit dem sogenannten Quantitative Easing der US-Notenbank im ursächlichen Zusammenhang steht. Schließlich hat die Notenbank mit ihren Anleihekäufen massiv den Markt verzerrt und somit für deutlich niedrigere Renditen, insbesondere am langen Ende der Zinskurve, gesorgt. Die Verfasser der Studie der regionalen Fed in San Francisco kommen allerdings zu dem Schluss, dass die Vertreter des Lagers „Dieses Mal ist alles anders!“ keine nachweisliche statistische Signifikanz für ihre These erhalten. Folglich wäre dann davon auszugehen, dass obwohl das US-Wachstum zwar weiterhin als sehr robust gilt, die Gefahr einer zukünftigen Rezession bei einer anhaltenden Verflachung der US-Zinskurve deutlich zunimmt. Wenn man dann weiterhin glaubt, wie es der Autor macht, dass die US-Wirtschaft sehr signifikant für das globale Wachstum ist, dann wird die Relevanz dieses Szenarios auch für uns Europäer mehr als deutlich.
Grafik 2: Eintrittswahrscheinlichkeit einer US Rezession
Figure 3: Performance of 10-year Bund and Treasury yields
Grafik 4: „Steilheit“ der Zinskurven in USA und Deutschland
Grafik 5: Ein „Box Trade“
Die US-Notenbank in New York hat auch ein Modell entwickelt, in dem sie aus vielen Variablen wie u. a. der Form der Zinskurve eine Wahrscheinlichkeit berechnet, dass die heimische Wirtschaft in eine Rezession abgleitet. Dieser Wert ist für Juli 2019 auf 13,6 % geklettert (siehe Grafik 2). Dies ist kein besonders hoher Wert und es ist letztendlich auch nur ein weiteres Modell. Bemerkenswert bleibt aber die Dynamik der Entwicklung.
Die enge Verzahnung des US-amerikanischen und europäischen Finanzmarktes wird auch anhand von Grafik 3 deutlich. Über die letzten 30 Jahre haben sich die Renditen auch über lange Zeiträume hinweg im Einklang bewegt. Erst in den letzten Jahren lässt sich eine gewisse Abkopplung der beiden Märkte beobachten. Dies ausschließlich auf das noch andauernde Quantitative Easing der EZB zu schieben, ist sicherlich etwas zu kurz gesprungen. Wir glauben, dass auch die anhaltende Unsicherheit hinsichtlich der Stabilität des Euros einen großen Einfluss auf die überaus niedrigen Bundrenditen hat. Selbst nach dem für Ende dieses Jahres erwarteten Ende des Anleiheaufkaufprogramms (APP) der EZB ist zu befürchten, dass die Renditen der langen Bundesanleihen weiterhin tiefer bleiben, als es der Inflationsausblick eigentlich rechtfertigen würde. Eine Katastrophe für die deutschen Alterssicherungssysteme, aber dazu an anderer Stelle mehr.
Zu guter Letzt wollen wir noch einen Blick auf die unterschiedlich steile Neigung der Zinskurven hüben wie drüben werfen (siehe Grafik 4). Die US-amerikanische Kurve ist sehr flach, aber die deutsche Kurve ist nicht flacher, wie man vielleicht aufgrund der Tatsache erwarten könnte, dass die langen Renditen sehr tief stehen. Fakt ist, die deutsche Kurve zur Zinsdifferenz zwischen den 2- und 10–jährigen Staatsanleihen ist mit 100 Basispunkten im guten Mittelfeld. Dies ist in der Hauptsache der unliebsamen Tatsache geschuldet, dass die Renditen auf 2-jährige Staatsanleihen -0,6 % aufweisen. Grafik 5 zeigt die Differenz dieser beiden Steilheitsgrade. Wie man unschwer erkennen kann, hat der sogenannte „Box Trade“ fast seinen Höchststand der letzten 15 Jahre erreicht. Beherzte Arbitrageure könnten diesen Umstand nutzen, um einen Bund Flattener gegen einen Treasury Steepener aufzusetzen. Das Marktmomentum spricht gegen diesen Trade, aber nur den Mutigen gehört die Welt.
Aber zurück zu dem Umstand, dass die Bundkurve relativ steil ist. Warum ist dies relevant? Aktuell erwarten viele Marktteilnehmer, dass die EZB frühestens im Sommer 2019 die Zinsen anheben könnte. Dies konnte man so in die Äußerungen der Zentralbankratsmitglieder hineininterpretieren. Sollte die Prognosekraft der amerikanischen Zinskurve hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit einer US-Rezession zutreffend sein, dann könnte man möglicherweise im Sommer 2019 eine erste deutliche Eintrübung am Wirtschaftshorizont erkennen. Genau zu dem Zeitpunkt der potenziell ersten Zinserhöhung der EZB seit mehr als 10 Jahren. Wir gehen allerdings davon aus, dass die EZB die Zinsen unter diesen Umständen nicht erhöhen würde. Damit existiert real die Möglichkeit mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit größer Null, dass wir eine europäische Rezession mit negativen Zentralbankzinsen beginnen. Keine schönen Aussichten, aber aus unserer Sicht zum Glück auch nicht wirklich sehr wahrscheinlich.
Allerdings würden wir dem Vertrauen unserer Anleger nicht gerecht werden, wenn wir unliebsame Möglichkeiten ausblenden. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit festzuhalten: Wir erwarten nicht, dass in den USA innerhalb der nächsten 12 Monate eine Rezession beginnt. Das Wachstum ist sehr robust und scheint im dritten Quartal auch noch an Fahrt aufzunehmen. Global hingegen scheint der Zenit des Wachstums bereits überschritten zu sein. Das Wachstum ist weiterhin solide, aber die Zuwachsraten nehmen langsam ab. In der Semantik der Kurvendiskussion würde man sagen, die erste Ableitung ist positiv, aber die zweite Ableitung ist bereits negativ.